Dienstag, 23. Februar 2010

Pflichten moderner Staaten

auschwitz_l



Die Republik Österreich wird sich finanziell an der Erhaltung der Auschwitz-Gedenkstätte beteiligen.
Es ist erstaunlich, dass diese Selbstverständlichkeit überhaupt eine Meldung wert ist. Leider war diese Beteiligung keine Selbstverständlichkeit.

Selbstverständlich ist es im kleinen Fürstentum Liechtenstein, dass sich Lehrer/innen mit staatlicher Unterstützung um die Verbesserung der Shoah-Bildung bemühen. Es ist respektabel, was da in einem halben Jahrzehnt bewegt werden konnte.

Anlässlich der offiziellen Holocaust-Gedenkstunde der Liechtensteiner Regierung bekam ich die Gelegenheit, als für Pädagogik zuständiges Vorstandsmitglied der Liechtensteiner Freunde von Yad Vashem über die Lehrer/innenweiterbildung der letzten Jahre zu referieren:

Sehr geehrte Gäste der diesjährigen Holocaustgedenkstunde der Regierung des Fürstentums Liechtenstein!

Der Bus schaukelte. Doch mein Blick klebte auf der Buchseite. Noch eine halbe Stunde bis Tel Aviv. Genug um dieses Buch fertig lesen zu können. Weder die Hitze der israelischen Sommersonne noch das Wackeln des Gefährts konnten mich ablenken. Die Landschaft zog von mir unbeachtet vorbei. Mein Blick hob sich nur, wenn Wasser in meinen Augen das Weiterlesen für einen Moment unmöglich machte. Ich war gefesselt von Rutka, dem 14jährigen Mädchen, das in einem Notizbuch vier Monate ihres letzten Lebensjahres in Form von Tagebuchaufzeichnungen für uns bewahrt hat. Als Sekundarlehrer und Vater kenne ich viele Mädchen in ihrem Alter. Sie sind genau so, wie Rutka sich selbst beschrieben hatte, lebendig, fröhlich, traurig und verzagt. Jeder, der mit 14jährigen Mädchen zu tun hat, kennt diese Stimmungsschwankungen nur zu genau. Und doch sind Rutkas Lebensumstände ganz anders. Als sie die Einträge in ihr Notizbuch machte, lebte sie in einem Ghetto. Durch einige konkrete Schilderungen und zwischen den Zeilen erfahren wir vom Grauen dieses Ortes. Wenige Wochen nach dem letzten Eintrag war sie tot, umgebracht von den Schergen des NS Unrechtsstaates.
Sicher war ich zu der Zeit besonders empfänglich für Rutkas Geschichte, hatte ich doch gerade eine einwöchige Fortbildung an der International School for Holocaust Studies in Jerusalem absolviert. Doch Rutkas Geschichte berührt mich immer, wenn ich in ihrem Tagebuch lese.

Die International School for Holocaust Studies ist ein Teil von Yad Vashem, dem Ort, wo in Israel der 6 Millionen Opfer der Shoah, wie die Juden den Holocaust oft nennen, gedacht wird. Dort hat sich bei mir ein fundamentaler Wechsel in meiner Betrachtungsweise der Geschichte des 20. Jahrhunderts vollzogen. Der Holocaust ist nicht mehr ein Kapitel der Geschichte, das mit Massenverbrechernamen gefüllt ist und in dem Bilder von Leichenbergen dazu führen, dass das Gehirn eines jeden menschlich Fühlenden sofort auf Distanz gehen muss. Jetzt ist für mich der Holocaust ein Ereignis, das millionenfach Trauer und Schmerz ausgelöst hat und immer noch auslöst. Aufzeichnungen, wie die von Rutka und vor allem der Kontakt zu alten Menschen, die eines der grössten, vielleicht das grösste Verbrechen der Geschichte erlebt und überlebt haben, legen Zeugnis dafür ab, dass der Holocaust kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte ist, denn noch immer leben Menschen, die täglich mit ihren seelischen und körperlichen Verletzungen aus der damaligen Zeit zu kämpfen haben. Noch schlimmer wiegt, dass es immer noch und es hat den Anschein sogar in zunehmenden Masse Leute gibt, die den Holocaust leugnen oder sogar glorifizieren. Das Gedenken an den Holocaust darf nie zu einem abgeschlossenen Kapitel der Geschichte verkommen.
Eine ähnliche Veränderung, wie sie bei mir in der Betrachtung des Holocausts stattfand, erlebten all jenen liechtensteinischen Lehrpersonen, die, wie ich, die Möglichkeit hatten, an der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem an Fortbildungen teilnehmen zu dürfen. Diese kostspieligen und wertvollen Weiterbildungen waren nur möglich, da der Verein der Liechtensteinischen Freunde von Yad Vashem diese Fortbildungen initiierte und das Schulamt des Fürstentums Liechtenstein mit Geld und administrativer Hilfe die Durchführung ermöglichte. Es gilt, den Sponsoren zu danken und auch denjenigen Lehrpersonen, die in ihrer unterrichtsfreien Zeit und bei Bezahlung eines Selbstbehaltes an diesen Veranstaltungen teilgenommen haben.
2006 reiste die erste 15köpfige Gruppe nach Yad Vashem, 2007 und 2008 folgten Weiterbildungen von einzelnen Personen und 2009 bildeten sich wieder 14 liechtensteinische Lehrkräfte in Jerusalem weiter. Followupseminare sind für 2010 von den Liechtensteiner Freunden von Yad Vashem mit Unterstützung des Schulamts bereits geplant.
Die erhoffte Wirkung hat sich eingestellt. An den Sekundarschulstandorten des Landes werden seither jährlich eindrucksvolle Holocaustgedenkveranstaltungen abgehalten, Ausstellungen kamen ins Land, ich erinnere an die Samuel Bak Ausstellung in Triesen und die Wanderausstellung „Kinder im Holocaust“. Diese berührenden Ausstellungen wurden von Schulklassen besucht und gaben Anlass sich mit dem menschlichen Leid der damaligen Zeit auseinanderzusetzen. Mancher Unterricht hat sich entsprechend dem erfolgten Paradigmenwechsel verändert und eine Arbeitsgruppe hat sich gebildet um authentisches Unterrichtsmaterial mit Liechtensteinbezug herzustellen. Ergebnisse der Arbeit dieser Gruppe und einen Einblick in das Gedenken der Schülerinnen und Schüler können Sie noch im Verlauf dieser Gedenkfeier auf sich wirken lassen.
Nehmen wir uns aber vorher ein paar Minuten Zeit, um Bilder von Yad Vashem und der Arbeit der beiden Lehrer/innengruppen aus den Jahren 2006 und 2009 aufzunehmen.
Mir bleibt nur noch allen für die Teilnahme, die organisatorische Arbeit im Hintergrund und die pekuniäre Unterstützung zu danken. Es ist gut zu wissen, dass es eine Regierung, ein Schulamt, ein Verein, viele Lehrpersonen und nicht zuletzt viele Schülerinnen und Schüler gibt, die sich der Verantwortung, die uns die Lehre aus der Geschichte auferlegt, bewusst sind und entsprechend handeln. Danke.

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Die Aufgabe des Bildungssystems eines Landes ist es,...
haraldwalser - 3. Feb, 00:06
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